Call for Papers: Lessing Yearbook / Jahrbuch 2017

Lessing, die europäische Aufklärung und die erste sexuelle Revolution

Lessings Texte, wie auch viele Texte seiner europäischen Zeitgenossen, spiegeln eine gesellschaftliche Entwicklung, die nicht nur dafür verantwortlich ist, dass sich Geschlechterrollen allmählich ändern, sondern auch dass Männer und Frauen in der Praxis anders miteinander umgehen können. Hinzu kommt - was in der Forschung bis jetzt vernachlässigt wurde - dass es im 18. Jahrhundert auch einen Diskurs gab, der sich nicht nur mit dem, was später "Sexualität" genannt wurde, auseinandersetzte, sondern sich darüber hinaus auch für eine Befreiung der Sexualität in ihren vielfachen Formen einsetzte, weshalb der Kulturwissenschaftler Faramerz Dabhoiwala in Bezug auf das 18. Jahrhundert von einer "ersten sexuellen Revolution" spricht (vgl. dazu Lust und Freiheit. Die Geschichte der ersten sexuellen Revolution, deutsche Übersetzung 2014). Im Zuge einer neuen Philosophie der Natur, die überlieferte Werte und Normen in Frage stellt, werden auch Argumente formuliert, die das Sexualverhalten von alten Restriktionen und Verboten befreien sollen. Damit entsteht die Möglichkeit, die Rolle der Sexualität in der Gesellschaft neuzudenken; zugleich wird die Sexualität aber auch problematisiert, wie Dabhoiwala zeigt. Während am Anfang des 18. Jahrhunderts vor allem die weibliche Sexualität in literarischen Texten zum Objekt des Interesses und der kritischen Untersuchung wurde, wird später im Jahrhundert vor allem die Sexualität der Männer problematisiert, und der Libertin als Verführer und Vergewaltiger wird zur prominenten literarischen Figur. Im 18. Jahrhundert gibt es Versuche, Sexualität gesellschaftlich zu regulieren, indem einerseits Sexualität und Bevölkerungsplanung zusammengedacht werden und anderseits Initiativen ergriffen werden, Sexualverhalten (Prostitution) mittels gesellschaftlicher Institutionen zu reformieren. Das Interesse richtet sich auch auf nicht-europäische Kulturen, die zeigen, dass Sexualität auch außerhalb einer monogamen Beziehung möglich ist - eine Entdeckung, die Autoren und Anthropologen der Aufklärung fasziniert. Darüber hinaus werden in der Literatur des 18. Jahrhunderts gelegentlich Polygamie und Homosexualität diskutiert, obgleich sie keine zentrale Rolle im Denken der Aufklärung über Sexualität spielen. Schließlich entstehen im 18. Jahrhundert neue Formen des sexuellen Diskurses, der zum Beispiel in die Biographie eindringt. Männer und Frauen zeigen sich zunehmend bereit, in Texten sexuelle Erfahrungen zu thematisieren und so ihre sexuellen Biographien durch moderne Medien mit der Öffentlichkeit zu teilen.
Das Lessing Jahrbuch erbittet Beiträge in deutscher oder englischer Sprache über Texte von Lessing und seinen Zeitgenossen, die sich mit der "sexuellen Revolution" des 18. Jahrhunderts auseinandersetzen. Wir sind insbesondere an Forschungsansätzen interessiert, die den europäischen Kontext dieser Texte berücksichtigen. Bitte senden Sie ein kurzes Exposé (maximal 300 Worte) vor dem 25. Juni 2016 an niekerk@illinois.edu. Wir informieren Sie über den Status Ihres Beitrags spätestens am 10. Juli 2016. Abgabe der Endfassung des Beitrags (8.000 Worte): 1. Dezember 2016.


Die Kollektaneen sind zitiert nach der Lachmann/Muncker-Ausgabe.
Die Abbildungen wurden freundlicherweise von der Lessing-Akademie zur Verfügung gestellt.